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Kein Recht auf digitale Teilhabe in vielen Ländern –

Die große Freiheit des Netzes ist in vielen Regionen der Welt nur eine Täuschung. Insbesondere in arabischen Ländern, den Nachbarländern Russlands und Subsahara-Afrika markierte das Jahr 2015 ein Tiefpunkt für demokratische Entwicklung und bürgerliche Freiheiten. Beitrag aus einem Dossier der Heinrich Böll Stiftung.

Wie passt das zusammen? Mehr als zwei Milliarden Menschen auf der Welt nutzen das Handy. Schätzungen der ITU[1] zufolge hat die Hälfte der Weltbevölkerung einen Zugang zum Netz. Es gibt so viele Informationen wie nie zuvor und mehr Menschen als je zuvor haben heute weltweit Zugang zu ihnen. Das Netz (und das Mobiltelefon) machen es möglich!

Doch auch das Netz hält den dramatischen Trend nicht auf, von dem journalistische Nichtregierungsorganisationen berichten: in alle Weltregionen wächst der Druck auf unabhängige Journalist/innen, und das gilt für analoge wie digitale Medien: Zensur, existenzielle Drohungen und Einschüchterungen, wachsenden Druck auf analoge wie digitale Medien. Ein Trend, der vor allem in autokratisch regierten Staaten wie Ägypten, Russland oder der Türkei auftritt, und in der Türkei mit der Festnahme von mehr als 40 Journalist/innen nach dem Putsch einen aktuellen dramatischen Höhepunkt fand. Ein Trend, der aber auch Folge von bewaffneten Konflikten[2] ist. Aus allen diesen Ländern können Journalist/innen nur unter Gefahren berichten. Und Nutzer/innen müssen befürchten, dass sie unmittelbar belangt werden, wenn sie nur oppositionelle Webseiten besuchen, unabhängige oder kritische Informationen über Facebook oder Twitter teilen.

Kontrolle und Zensur digitaler, öffentlicher Räume

Wie im Fall der 15-jährigen palästinensischen Tamara Abu Laban in Ostjerusalem, die von der israelischen Polizei zuhause abgeholt und verhaftet wurde. Ihr Vergehen? Sie hatte ihren Facebook Status mit den Worten „Vergib mir!“ angegeben. Die israelischen Sicherheitskräfte bewerteten das als „Anstiftung zu Gewalt“. Fünf Tage Hausarrest und eine Geldstrafe waren die Folge. Außer Tamara ging es in 2015/16 weiteren 150 Nutzer/innen in Israel und den von Israel kontorollierten palästinensischen Gebieten so, die aufgrund ihres Verhaltens im Netz festgenommen wurden.

Zwar ist die technische Infrastruktur heute weltweit vorhanden, es stehen mehr Informationsquellen zu Verfügung – auch in Entwicklungs- und Schwellenländern hatten 2015 54 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer Zugang zum Internet[3]. In den Industrieländern waren es 87 Prozent. Doch die neuen digitalen öffentlichen Räume werden – in repressiven Staaten, in Konflikten und Kriegen – kontrolliert, manipuliert, zensiert.

Das Internet als Entwicklungsmotor

Das Netz hat dafür gesorgt, dass die Zivilgesellschaften in vielen Ländern heute sehr viel stärker öffentlich präsent ist als noch vor zehn Jahren. Sie setzt ihre Themen auf die Agenda, fordert Rechenschaft – auch dort, wo sie keinen Zugang zu den traditionellen Medien hat. Das Netz bietet durch seine globale und sprachübergreifende Funktionsweise großartige Chancen für investigative Projekte, wie die Panamapapers. Erst durch das Netz ist es möglich, diese immensen Datenmengen zu transportieren und zu verwerten. Es bietet über nutzergenerierte Inhalte (user generated content) für die Berichterstattung über Krisen und Konflikte neue Quellen an.

Das Netz hebt einseitige Medienkommunikation auf, macht den Dialog der Nutzer/innen mit den Produzenten leicht. Es schafft so neue Formen der Beteiligung. Zusammenfassend heißt das: das Internet birgt unerschöpfliche Chancen auf Bildung, Partizipation und wirtschaftliches Wachstum. Jedoch nur, wenn es gesetzlich und politisch den Rahmen und die Freiheit dafür gibt. Wo es diesen Rahmen nicht gibt, da lassen sich die Freiheiten und Chancen, die das Netz bietet, mit ein paar Algorithmen, Filtern oder propagandistischen Kampagnen stören, gar zerstören. Wer freie und unabhängige Informationen zensieren oder gar verhindern will, der tut das – gleichgültig ob diese im Netz oder in analogen Medien verbreitet werden.

Und genau das wollen staatliche und nichtstaatliche Akteure in vielen Regionen. Auch autoritäre Regime, Sicherheits- und Geheimdienste oder Konfliktparteien haben die Funktionsweise des Internets verstanden. Sie nutzen die virale Verbreitung von Informationen im Netz für ihre politischen Interessen und Zwecke. Ob im digitalen Dschihad des IS oder im Informationskrieg Russlands gegen die Ukraine: Die Menge parteilicher und manipulativer Informationen durch diese Akteure hat immens zugenommen. Die Radikalisierung des Attentäters von Nizza oder jungen Deutschen, die als Kämpfer zum IS gehen, passiert vor den Bildschirmen und im Internet. Dort – in den Echoräumen der sozialen Medien – sind sie umgeben von Gleichgesinnten. Dort erreichen die Medienstrategen des IS ihre Zielgruppen mit einer Vielzahl attraktiver multimedialer und webaffiner Inhalte.

Die große Freiheit des Netzes ist eine Täuschung

Die große Freiheit des Netzes – die Zivilgesellschaft und Journalisten neue Räume eröffnet, eine neue Mitsprache ermöglicht – sie ist in vielen Regionen nur eine Täuschung! Der Zustand von Medien, Meinungsvielfalt und Informationsfreiheit ist ein klarer Indikator für die Freiheit und Unfreiheit im Land. Ein Gradmesser für den demokratischen Zustand des Landes. Und der Trend ist negativ: Für die arabischen Ländern, die Nachbarländer Russlands (insbesondere den Kaukasus, Belarus, Zentralasien) und Subsahara-Afrika gilt: 2015 war ein neuer Tiefpunkt für demokratische Entwicklung und bürgerliche Freiheiten.[4]

Dort wo der Freiraum für abweichende Meinungen, für die Zivilgesellschaft, politisch nicht gewollt wird, dort werden auch die Freiräume im Netz beschnitten. Je mehr Menschen das Netz nutzen, desto stärker verhindern oder begrenzen repressive Regime den Zugang zu Information, kontrollieren Nutzerverhalten im Netz.

Das Netz ist nur so frei wie der gesetzliche und politische Rahmen

In China müssen sich Internetnutzer seit 1996 beim Ministerium für Staatssicherheit registrieren lassen, seit 1997 unterstehen Internetbetreiber staatlicher Kontrolle. Seit einigen Jahren ist es verboten, Nachrichten ohne staatliche Genehmigung im Internet zu verbreiten! Das passt zu der Verhinderungspolitik gegenüber der Zivilgesellschaft insgesamt. Auch in Äthiopien oder sind laut Freedom House landesweit Filter installiert, die bestimmte Seiten und Inhalte blockieren. Das gilt auch für die Webseiten der Opposition in Myanmar. Dort sind die Betreiber von Internetcafés überdies verpflichtet, dass die Computer alle fünf Minuten alle genutzten Seiten speichern, so dass die Netzaktivitäten der Kunden verfolgt werden können. In Kasachstan sind die Seiten großer Blogbetreiber wie WordPress oder Livejournal gesperrt, wird der Content von Nichtregierungsorganisationen oder oppositionellen Parteien staatlich überwacht. Auch in der Türkei wurde die Zensur gesetzlich verschärft. Behörden können Internetseiten ohne Gerichtsbeschluss sperren, wie im März 2014 der Internetdienst Twitter. Außerdem sollen die Behörden das Recht bekommen, das Surfverhalten von Internetnutzern aufzuzeichnen und zwei Jahre lang zu speichern, ohne die Betroffenen darüber zu informieren.

Das schließt andererseits nicht aus, dass Erdogan dieselben sozialen Medien, die er einerseits stark kontrolliert, für die Durchsetzung seiner Interessen nutzt: So rief er in der Putschnacht über Twitter seine Anhänger dazu auf, gegen die Putschisten zu demonstrieren. Und einige Stunden später ließ er sich über Facetime zum Live-Interview beim TV Sender CNN Türk zuschalten. Über Satellit und Kabel wurde die Übertragung des Interviews mit Erdogan zwar unterbrochen, aber über das Netz erreichte sie Millionen Nutzer/innen.

Das Netz setzt auch nicht die Gesetze des Marktes außer Kraft: in Ländern, wo professionelle Medienunternehmen nicht überlebensfähig sind, wird dieses Problem nicht durch das Internet gelöst – sondern im Zweifel durch die schnell wachsende Konkurrenz vernetzter Informationen noch verstärkt. Das trifft zum Beispiel die Medienmärkte Osteuropas: Hier konkurrieren zu viele Medien um zu wenige Nutzer.[5] Die Medienbetriebe hängen von ihren politischen Eigentümern ab. Diese wirtschaftliche Abhängigkeit führt zu entsprechenden inhaltlichen Abhängigkeiten, zu einseitiger, parteischer Berichterstattung und Selbstzensur. Medien werden ihrem Auftrag nicht gerecht, unabhängig zu berichten. Die Folge: ein massiver Glaubwürdigkeitsverlust der Medien bei der Mehrzahl der Menschen im Land.

Digitale Teilhabe ist ein Schlüssel für Entwicklung

Der technische Zugang ist immer noch in vielen Regionen nur wenigen Menschen möglich: in Äthiopien und Uganda besitzen gerade einmal 4 Prozent aller Menschen ein Smartphone, um Informationen aus dem Internet zu erhalten. Pakistan steht mit 11 Prozent Smartphone-Nutzung besser da – und ist etwa gleichauf mit Burkina Faso und Tansania. In Russland sind es 45 Prozent, vergleichbar mit anderen Schwellenländern wie Venezuela und Brasilien. Doch für alle diese Länder gilt: nach wie vor sind die Menschen auf dem Land, sind vor allem Frauen und Menschen mit geringem Bildungsgrad kaum in der Lage, Inhalte über das Netz zu erhalten.

Es ist eine unmittelbare Wechselwirkung: Wo das Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung nicht respektiert wird, wo es durch Gesetze, Verhaftungen oder Einschüchterungen eingeschränkt wird, dort wird der Spielraum für Zivilgesellschaft, für Vielfalt und Beteiligung sei sie politisch, sozial oder wirtschaftlich – schrumpfen.

Das hat gravierende Auswirkungen: Denn die Verfügbarkeit von Informationen und die Beteiligung an Kommunikation haben nachweislich Auswirkungen auf die Entwicklung ganzer Volkswirtschaften: So fand die Weltbank heraus, dass jedes Handy pro 100 Menschen mehr in einem Entwicklungsland ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von 0,8 Prozentpunkten ergibt. Das bestehende Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung und Zugang zu Information ist nicht weniger als eine Voraussetzung dafür, andere Menschen- und Grundrechte ebenfalls wahrnehmen zu können – und damit inklusive Entwicklung für alle Menschen einer Gesellschaft zu ermöglichen.

Digitale Teilhabe ist also kein Add-on, sondern Voraussetzung für Entwicklung.[6]Digitale Teilhabe heißt: Menschen können frei und ungehindert unabhängige Informationen nutzen. Digitale Teilhabe setzt jedoch nicht nur voraus, dass alle Nutzerinnen und Nutzer Zugang zu digitalen Informationen haben. Dass sie nicht verhaftet, bedroht oder verhört werden, wenn sie im Netz ihre Meinung äußern.

Voraussetzung für digitale Teilhabe ist aber auch, dass Menschen wissen, mit diesen Informationen umzugehen. Damit die Verfügbarkeit von Informationen im Netz zu mehr Freiheit, mehr Rechenschaft, mehr Pluralität führen kann, brauchen Nutzer/innen überall auf der Welt die entsprechenden Kompetenzen.[7] Diese Medienkompetenz hinkt in vielen Regionen der Welt dem technischen Fortschritt hinterher. „Media and Information Literacy“ heißt vor allem, die richtigen Fragen zu stellen: Wie kann ich Meinung und Fakten trennen? Wie lassen sich Medienbotschaften verstehen oder einordnen? Wie finde ich alternative Informationen? Wie kann ich mich im Netz wirkungsvoll beteiligen?

Wer diese Kompetenzen hat, der/die kann trotz Einschränkungen und Manipulationen die Informationen im Netz für seine/ihre Bildung, Entwicklung, gezielte Vernetzung und zivilgesellschaftliches Engagement besser nutzen. Der/die unterscheidet das Wahre vom Unwahren. Dann wäre erreicht, was das Netz eigentlich anbietet: die große Chance auf digitale Teilhabe!

Dieser Artikel ist ein Beitrag aus dem Dossier der Heinrich Böll Stiftung vom 13.9.2016

Dossier: “Es wird eng – Handlungsspielräume für Zivilgesellschaft”. Read more

Fußnoten

[1] ITU = International Telecommunication Union, dt: Internationale Fernmeldeunion ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen, die sich offiziell und weltweit mit technischen Aspekten der Telekommunikation befasst.

[2] Besonders betroffen u.a. Syrien, Libyen, Burundi, Jemen usw.

[3] Quelle: pewglobal

[4] Freedom House bildet in seinem Index 195 Länder ab: 2015 galten 89 (46 percent) als “frei”, 55 (28 percent) als “teilweise frei” und 51 (26 percent) “nicht frei”.

[5] In Georgien zum Beispiel sind es 138 TV-Sender, und 21 Radiosender.

[6] „Digitale Teilhabe“ ist auch deshalb eines der zentralen strategischen Ziele der DW-Akademie (englische Version).

[7] Ist eines der zentralen Handlungsfelder der Medienentwicklungszusammenarbeit. Die führende Organisation für Medienentwicklung in Deutschland die DW Akademie, die in rund 50 Ländern weltweit mit Mitteln des BMZ, des AA und multilateraler Organisationen Projekte durchführt.

https://www.boell.de/de/2016/09/13/shrinking-civic-spaces-das-recht-auf-digitale-teilhabe-wird-vielen-regionen

Radikale Heldengeschichten – die Medienstrategie des IS verlangt nach neuen Antworten

Ohne die digitalen Medien wäre die Globalisierung des IS nicht denkbar, meint Ute Schaeffer. 7000 Salafisten leben in Deutschland, mehr als 700 sind aus unserem Land in das IS-Gebiet ausgereist.  Doch die Propagandamaschinerie des IS zielt auf weit mehr.

Der IS kämpft an vielen Fronten – im Irak und in Syrien mit Waffen und Gewalt. Und im Internet, um weltweit seinen Einfluss auszuweiten.  Unbemerkt und im stillen spricht er hier nicht nur seine Anhänger an, sondern wirbt um neue Zielgruppen. Was macht die Medienstrategie des IS so erfolgreich – seine Inhalte so attraktiv?

Hausgemachte Dschihadisten

Zum Beispiel für den 21-jährigen Arid Uka? Der junge Mann stammt aus dem Kosovo, lebte in Frankfurt und war als Leiharbeiter am Flughafen Frankfurt tätig. Weder das Bundeskriminalamt noch der Verfassungsschutz hatten den Mann im Visier. Am 2. März 2011 verübte Uka den ersten erfolgreichen islamisch motivierten Terroranschlag auf deutschem Boden, bei dem zwei Personen starben. Der Schock bei den deutschen Sicherheitsbehörden saß tief. Wie konnte das passieren? Wieso war dieser Mann total unbekannt? Die Antwort ist erschreckend: In relativ kurzer Zeit hatte sich der  Kosovare radikalisiert – vor seinem Computer in Deutschland. Wie viele andere konsumierte er die Propaganda radikaler islamischer Prediger. Er fand Gleichgesinnte, Anerkennung und Zuflucht in einer neuen, virtuellen Realität.

Die sozialen Netzwerke im Internet erlauben einen persönlichen und intimen Zugang. Der Computer, nicht die Moschee, ist der Ort, an dem die Radikalisierung heute stattfindet. Die neuen Medien werden zur Waffe, mit denen Menschen eingeschüchtert, verunsichert, manipuliert und rekrutiert werden. Wir sollten die Funktionsweise kennen und durchschauen, warum die Botschaften des IS so attraktiv sind – um gesellschaftlich und politisch die richtigen Antworten zu finden.

Das attraktive Narrativ des IS: Die Heldengeschichte des mutigen Kämpfers

Es war uncool, träge, unverständlich – das Image von Al-Qaida in den Medien: Asketische, hoch gebildete, zumeist einzelne Führungspersonen und Kämpfer. Belesene Ideologen, die ihre Botschaft hatten. Helden, die wenig erreichbar schienen. Die Medienarbeit von Al Quaida war hölzern und lud nicht zum Mittun ein. Einbahnstraßenkommunikation.

Der IS hingegen hat attraktive, massenwirksame Narrative geschaffen, die je nach Zielgruppe an deren kulturelle und individuelle Erfahrungen und Erwartungen angepasst werden. Das zentrale Motiv: Die Gemeinschaft der Helden. Hier begegnet man sich gleichberechtigt. Die Gemeinschaft bietet Halt und Orientierung. Und ihr Auftrag verspricht Abenteuer.

Eine attraktive Erzählung, das im Netz weiter gegeben, geteilt und empfohlen wird. Das Bild dieses Kämpfer-Kollektiv  steht nicht nur für eine Ideologie. Es  ist wie gemacht für eine virale, „soziale“ Verbreitung über entsprechende Wege im Netz: Die Inhalte sind modular, multimedial und “snackable”. Die Geschichten haben Täter und Opfer, Verlierer und Gewinner, sie sind bildstark, einfach erzählt und allgegenwärtig. Sauber und unblutig für die westlichen Nutzer, brutal und gewaltverherrlichend für die Nutzer in der arabischen Welt. Mit ihren Inhalten vor allem auch in Englisch verbreiten die IS-Kämpfer eine ausgeklügelte Botschaft: “Du lebst in einer ungerechten Gesellschaft, die dir keine Perspektiven bietet. Komm zu uns, denn hier bist Du jemand.” Ein romantisches ideales Bild, für die die Jugendlichen am Computer in Belgien, Deutschland oder Schweden leicht zu begeistern sind.

Im eigentlichen Kampfgebiet des IS hingegen wird das Narrativ regional angepasst und mit anderen Subbotschaften versehen:  So wird  Saudi-Arabien als nicht islamisch genug dargestellt, jeder Wandel hin zu westlichem Lebensstil und Kultur ist laut IS ein Wandel in die falsche Richtung. Ein weiteres Thema ist der Kampf gegen die Schiiten. So präsentieren sie stolz in Videos ihre Erfolge – wie die Befreiung von Gefangenen in der  syrischen Stadt Idlib, die im Mai 2015 vom IS erobert wurde. Diese feiern den IS als Befreier, küssen die Hände und Füße von IS-Kämpfern.

Aber der IS produziert nicht nur eigene Botschaften, sondern greift auch Nachrichten auf: Das Bild des kleinen syrischen Jungen Aylan Kurdi, der tot an die türkische Küste angespült wurde, ging um die Welt. Ein erschreckendes Bild, das eigentlich auf die  Auswirkungen des IS-Terrors verweist: Syrer fliehen vor der Gewalt des syrischen Bürgerkriegs – und dem Terror der Islamisten. IS nahm das Foto ebenfalls auf. Doch seine Propaganda deutete es ganz anders: Das Magazin Dabiq beschrieb das Bild als Warnung an jene Syrer, die vorhaben, das Land zu verlassen. Die Flucht aus muslimischen Ländern in Richtung der der „ungläubigen Kriegstreiber“ in Europa wird als  gefährliche “Sünde” präsentiert. Dort würden die Kinder einer ständigen Bedrohung von Homosexualität, Drogen und Alkohol ausgesetzt. Der Preis für diese Sünde sei der Tod.

Die Botschaft kommt an

Der IS geht mit der Zeit: Wo früher VHS und Audiokassetten verbreitet wurden, werden heute die unterschiedlichsten Medien-Plattformen  genutzt. Die wichtigste ist al-Furqān Media, mit über 160 Veröffentlichungen im vergangenen Jahr. Das Magazin veröffentlicht die Botschaften von “Kaplan” Abu Bakr al-Khilafa. Weitere Kanäle sind I’tisaam Media, Al Hayat Media Center und AJND Media. Darüber hinaus kooperiert der IS noch mit anderen Medien, wie Albatar Media, al-Khilafa-Media, Albayan Radio, al-Khalifa-TV und Dabiq. Dabiq ist ein aufwändig produziertes Onlinemagazin für Muslime in Europa. Es erscheint in englischer Sprache.

Der IS unternimmt mit großem Erfolg und einer klaren und flexiblen Medien- und Vertriebsstrategie, was auch jede Zeitung und jeder Sender in Deutschland versucht, um sich Marktanteile zu sichern: Der IS holt die Menschen dort ab, wo sie sind. Sprachlich, inhaltlich und über den besten Nutzungsweg. Wenn die Botschaften ankommen sollen, dann muss das Produkt in Inhalt, Ansprache und Platzierung für die Zielgruppen leicht zugänglich sein.  Dabei sind vor allem soziale Netzen wichtig: hier verbreitet sich die Botschaft des IS von einem zu anderen. Twitter-Hashtags wie #AllEyesOnISIS and #CalamityWillBefallUS verbreitete sich wie ein Buschfeuer. Es gilt für das Marketing aller Marken, und ist auch von den Medienideologen des IS klar erkannt: keine Botschaft ist so überzeugend, wie die , welche innerhalb der peer-group, der „Freunde“, „Follower“ und Gleichgesinntent geteilt wird. Schnell machte sich der IS diese Wirkungsweise der „Me-Sphere“ im Netz zunutze und entwickelte eine eigene Android-App, die es ihm erlaubte, die Kontrolle über Twitter- -Accounts von Abonnenten zu übernehmen.  Google stoppte die App, sie ist nicht mehr verfügbar.

Attraktive Gegennarrative sind notwendig

Es kann keine Lösung sein, Social-Media-Accounts von IS-Kämpfern und –Anhängern zu sperren. Das Thema ins Abseits zu drängen, mindert im besten Fall die Symptome, im schlimmsten Fall verstärkt es ihre Wirkung. Eine Lösung kann nur bedeuten, sich differenziert, aktiv und öffentlich mit den Botschaften auseinander zu setzen. Die aktuellen Ereignisse und die Flucht hunderttausender  Menschen aus Syrien in Richtung Europa macht das umso nötiger.  Die Propaganda  der Extremisten wird auf taube Ohren stoßen, wenn sich jugendliche Migranten angenommen und verbunden fühlen mit der Gesellschaft, in der sie leben.

Wie beim Hausbau ist auch hier das Fundament entscheidend: In der Schule, in Vereinen und den Universitäten soll aktiv Aufklärung geleistet werden. Eine immense Integrationsleistung, die nicht nur auf die eben erst Eingereisten zielen sollte, sondern auch auf die zweite und dritte Generation der Einwanderer und die überwiegend Jüngeren, welche –  ganz ohne Migrationshintergrund – die Erfahrung von Ausgrenzung und Entwurzelung machen. Gelungene Integration heißt:  Herstellen von Gemeinschaft und Gemeinsamkeit. Das ist es, was der IS den jungen Nutzern als Ideal vorgaukelt. Wer dieses Gefühl in unserer Gesellschaft und seinem Alltag entwickelt, wird für die Medienkampagnen des IS weniger empfänglich.  Gefragt sind hier auch die Medien: Von den IS-Medienstrategen lernen sollte vor allem für die  öffentlich finanzierten heißen: Jugendliche Nutzer mit den passenden Inhalten abholen, ihnen ein Sprachrohr bieten, ihre Sprache sprechen, ihre Kanäle bespielen.

Ja, das ist viel Arbeit. Sie kostet Geld und muss langfristig angelegt sein.  Doch das Risiko für unsere Gesellschaft ist immens, wenn wir den Kampagnen der Extremisten nichts entgegensetzen. Es lohnt mit Selbstbewusstsein und viel Kraft für das zu Recht attraktivere Narrativ einer freiheitlichen und toleranten Gesellschaft und deren Werte zu streiten – und es ist angesichts der Zuwanderung in unser Land eine Notwendigkeit!

Demokratie will gut gemanagt sein

Gewaltenteilung, Korruption, Wirtschaftswachstum – auf den ersten Blick abstrakte Begriffe. Doch diese Themen betreffen den Alltag von Milliarden Menschen – und entscheiden über den Erfolg des demokratischen Modells.

Ihr Kern ist nicht verhandelbar: Demokratie bedeutet die Gleichheit aller Bürger vor Recht und Gesetz und ihre Teilhabe an Gesellschaft und Politik. Wo das nicht gelingt, wird sie nicht entstehen. Demokratischer Wandel ist kompliziert und fragil. Ein politisches System zu demokratisieren macht viel Arbeit, erfordert umsichtige Manager und Akteure in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Der diesjährige Bertelsmann Transformationsindex kommt dabei zu keinem guten Ergebnis: Die letzten zwei Jahre brachten keine echte Trendwende für mehr Demokratie weltweit.

Sturz des Diktators heißt nicht mehr Demokratie

Und das, obwohl sich zwischen Ende 2010 bis 2013 eine Welle von Volksbewegungen erhob, wie es sie seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989/90 nicht mehr gegeben hatte. Im Dezember 2010 begannen die Demonstrationen gegen die Diktatur in Tunesien. Die Welle des Protests griff in kürzester Zeit auf die arabischen Nachbarn über. In der ganzen Region wurden die Diktatoren aus ihren Palästen vertrieben: Ben Ali in Tunesien, Husni Mubarak in Ägypten, Muammar al-Gaddafi in Libyen, oder Ali Abdullah Saleh im Jemen.

In Russland setzte die Demokratiebewegung mit weißen Schleifen und Bändern ein Zeichen und wehrte sich gegen die Manipulation der Wahlen. Und in der Ukraine gingen erst vor wenigen Wochen zehntausende erneut auf die Straße, weil sie die enge Anbindung ihres Landes an das autoritär regierte Russland ablehnen.

Zähes Tauziehen, schwacher Rückhalt

Russland und die Ukraine, Tunesien und Ägypten sind aber auch Länder, die zeigen, wie umkehrbar der demokratische Prozess ist. In Tunesien ist um die Verfassung ein zähes Ringen entstanden – zwischen Säkularen und Islamisten. In Ägypten wurden die Uhren zurückgestellt: Dort hat inzwischen wieder das Militär das Sagen – wie zu Zeiten Husni Mubaraks. Und in der Ukraine ist die Gesellschaft zutiefst gespalten zwischen europäischen Werten und einer politischen Hinwendung zu Russland.

In allen diesen Ländern konnte sich die Demokratie bisher nicht durchsetzen! Das heißt, sie hat zwar für mehr Beteiligung gesorgt und hier und da für mehr Meinungsfreiheit. Doch zugleich wurde die Armut größer, das Leben teurer und unsicherer. Hier bleibt Demokratie ein unerfülltes Versprechen, denn sie hat nicht eingelöst, was sich Menschen von ihr erhofften: bessere Perspektiven und soziale Gerechtigkeit. Das demokratische Modell hat sich (noch) nicht ausgezahlt. Und das birgt Risiken.

Gutes Management = Schlüssel zum Erfolg

Der BTI untersucht, ob eine soziale Marktwirtschaft entsteht und er fragt: Wie sorgfältig und überzeugend wird der demokratische Wandel gemanagt? Denn überall, wo die Forderung nach mehr Demokratie von den Eliten als Instrument des Machterhalts oder Machtgewinns missbraucht wurde, hat es Wandel schwer oder ist gar ganz gescheitert: In Ägypten sprechen die Menschen in diesem Zusammenhang vom “tiefen Staat”. Und sie meinen damit das Militär; den eigentlichen Machthaber seit Jahrzehnten, dessen Netzwerke in Wirtschaft und Politik ungebrochen vor sich hin wuchern. Ein Akteur, der den demokratischen Wandel verhindert, um die eigenen Interessen zu wahren.

Ohne langen Atem geht es nicht

Der Index zeigt, dass es nicht nur des demokratischen Luftholens bedarf. Sondern dass es einen langen Atem braucht. Und dass stabile und rechtsstaatliche Institutionen wichtig sind. Vor allem aber: Es bedarf einer klaren Mehrheit für das demokratische Modell. “Transformation” ist eben noch nicht Demokratie – sondern die Entwicklung dorthin. Und die geht einher mit massiven Umverteilungsprozessen und politischer Instabilität.

Die Deutsche Welle ist der Demokratieförderung seit mehr als 60 Jahren verpflichtet. Als journalistischer Begleiter aus der Mitte Europas werben wir für europäische Grundwerte, Demokratie und Menschenrechte. Und mit unseren Programmangeboten in 30 Sprachen geben wir den Machern demokratischer Veränderung ein Forum, decken Schwierigkeiten auf und rücken Erfolge ins Bild.

DW-Reporter überraschen mit persönlichen Geschichten

Der diesjährige Bertelsmann Transformationsindex war für uns deshalb ein guter Grund, auf die Erfolgsfaktoren für demokratische Entwicklung zu schauen. Gibt es gar ein Erfolgsrezept?

DW-Reporter gehen den Analysen des Indizes im Zeitraum von 2006 bis 2014 nach – mit eigenen Recherchen und mit überraschenden Ergebnissen: Spannende persönliche Geschichten und Reportagen sind entstanden. Werfen Sie mit uns einen Blick hinter die Schlagzeilen! Es lohnt sich.

Kommentar: EU-Flüchtlingspolitik – Ein Armutszeugnis

Nach der Katastrophe vor Lampedusa haben die EU-Innenminister über die europäische Flüchtlingspolitik beraten – ohne Ergebnis. Damit haben sie die Chance für einen humanitären Neuanfang verschenkt, findet Ute Schaeffer.

Politik und Realität haben manchmal wenig miteinander zu tun – das gilt auch für die Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa. Es ist ein unerträglicher Widerspruch: Während die Zahl der Flüchtlinge, die vor Europas Küste ertrunken sind, immer weiter ansteigt und allein bei dieser Katastrophe bisher mehr als 270 Tote geborgen wurden, belassen es die Politiker in den klimatisierten Konferenzräumen in Brüssel dabei, nichts zu beschließen. Das ist feige, das ist unmoralisch – und es ist kurzsichtig, denn Afrika und Europa trennen bei Lampedusa nur etwas mehr als 100 Kilometer Meer. Und das heißt: Morgen schon kann die nächste Katastrophe geschehen, und Europa nimmt es sehenden Auges hin.

Armut, Krieg und Terror setzen Menschen in Bewegung

Es ist daran zu erinnern: Die Armut, vor der die Menschen fliehen, ist weder selbst gemacht noch selbst gewählt. Sie ist verursacht durch Korruption, Krieg und Terror. Und sie ist mit verursacht durch unsere europäischen Handelsschranken, unsere Zölle, unseren Konsum. Wer einmal bei den Afrikanern aus Nigeria oder dem Senegal war, die als “Illegale” in Marokko oder Libyen gestrandet sind, weiß, sie wollen nur eines: um jeden Preis auf ein Boot nach Europa. Und der weiß auch, wie verzweifelt diejenigen sind, die dann ein paar Wochen später vor Europas Küsten ohne Gesicht und ohne Namen ertrinken. “Glaubst Du, einer von uns würde aufbrechen, wenn wir zuhause für uns und unsere Familie eine Perspektive sähen?!”, wird die Reporterin aus Deutschland gefragt. Nein, kaum einer würde aufbrechen.

Jeder ist sich selbst der Nächste

Da muss die Diskussion einsetzen. Und es wirkt fast zynisch, wenn der einzig fassbare Entschluss der EU-Minister nun ist, die Boote der europäischen Grenzschutztruppe Frontex noch weiter draußen im Mittelmeer – und damit vor den italienischen Landesgrenzen – einzusetzen. Wir tun so, als ob wir uns gegen Kriminelle oder gegen Piraten wehren müssten.

Diese Menschen haben verdient, dass wir unsere Asyl- und Flüchtlingspolitik gewissenhaft überprüfen. Doch niemand – auch Italien und Deutschland nicht – will in Europa ernsthaft über Konsequenzen aus dem Drama diskutieren. Immerhin, der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich hat Vorschläge gemacht: stärker gegen Schleuser zu kämpfen und die Lage in den afrikanischen Ländern zu verbessern. Doch statt an diesem Punkt konkreter zu werden, lenkt Deutschland schon wieder ab. Während täglich Nussschalen und Fischerboote im Mittelmeer sinken, stößt Friedrich eine Debatte über die Armutsmigration innerhalb der Europäischen Union an. Seht her, welche Lasten Deutschland schon schultert, mehr ist uns nicht zuzumuten! Das ist das Zeichen, das der Innenminister setzen will.

Armutszeugnis im reichsten Land Europas

Ja, als großes Land in Europa zählte Deutschland im vergangenen Jahr mehr als 70.000 Asylbewerber – und damit mehr als viele anderen Mitgliedsstaaten. Doch gemessen an seinen 80 Millionen Einwohnern liegt unser Land nur im europäischen Mittelfeld. Mutiger, menschlicher und entschlossener kommt Schweden seiner humanitären Verantwortung nach und trägt mit 4625 Asylbewerbern pro einer Million Einwohnern die größte Last. Deutschland hingegen, das sich lautstark gegen eine Änderung des Asylrechts wehrt, kommt nur auf einen Schnitt von 945 Flüchtlingen pro einer Million Einwohner. Und Italien, das in diesen Tagen zu große Belastungen bei der Flüchtlingspolitik beklagt, nimmt gerade einmal 260 auf. Jeder ist sich selbst der Nächste.

Und keiner wagt, eine neue, verantwortungsvollere und humanitäre Flüchtlingspolitik anzustoßen. Deutschland, die größte europäische Volkswirtschaft, das Land mit der geringsten Jugendarbeitslosigkeit, hat nicht einmal die Größe, angesichts der aktuellen Katastrophen – ob vor Italien oder in Syrien – durch eine einmalige und großzügige Geste mehr Flüchtlingen Schutz zu gewähren. Was für ein Armutszeugnis – für das reiche Deutschland!